Der Kern des Misstrauens, das nicht nur der Praxis der Demokratie, sondern inzwischen auch dem politischen System entgegenschlägt, liegt darin, dass sie hinter ihrem Versprechen, der gleichen Freiheit aller, der Gerechtigkeit als Chancengleichheit auf den verschiedenen Lebensgebieten zu dienen, zunehmend zurückbleibt. Man erkennt nicht mehr, dass die repräsentative Demokratie dem Gemeinwohl verpflichtet ist.
Kommunale Entwicklungsbeiräte als Chance
Kommunale Entwicklungsbeiräte können die Gemeinwohlorientierung politischer Entscheidung wiederbeleben und stärken. In diesen erarbeiten, nach dem Multi-Stakeholder-Prinzip, Vertreter:innen der Politik (des Oberbürgermeisters, Exekutive/Verwaltung) und des Stadtrates (Legislative) gemeinsam mit Vertretern der organisierten Zivilgesellschaft (Interessenverbänden, Bürger:inneninitiativen) und der Wirtschaft (Unternehmen/Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern) die langfristigen Orientierungslinien und die dazugehörigen Umsetzungskriterien für die Entwicklung ihrer Kommune. Dabei kann es zum Beispiel um die Entwicklung von Branchen, von neuen Mobilitätssystemen, Infrastruktur oder Daseinsvorsorge (Wohnen, Gesundheit etc.) gehen.
Multi-Stakeholder Ansatz und Deliberation
Das Besondere ist dabei der sogenannte Multi-Stakeholder Ansatz. Die sehr unterschiedlichen Interessen innerhalb der kommunalen Gesellschaft kommen zusammen und legen ihre Ziele und Positionen auf den Tisch. Der lotet vertraulich, über Argumente und vor allem Begründungen der eigenen Standpunkte aus, ob und unter welchen Bedingungen ihre legitimen Einzelinteressen mit denen aller anderen vereinbar sind und wo gegebenenfalls Kompromisse gefunden werden können. Aus dieser Deliberation gehen möglichst einstimmige Empfehlungen hervor. Sie stecken den Rahmen für die politischen Einzelentscheidungen ab, die von den gewählten demokratischen Vertreter:innen getroffen werden.
Grundkonsens einer pluralistischen Gesellschaft
Unsere repräsentative Demokratie soll sowohl die verschiedenen Einzelinteressen in unseren Gesellschaften als auch das Gemeinwohl für alle „repräsentieren“ – also in den politischen Entscheidungen „vergegenwärtigen“. Deshalb heißt sie so. Aber anders als ihre Gründungstheoretiker:innen, vor allem Ernst Fraenkel annahmen, gelingt es nicht, allein durch die politischen Auseinandersetzungen und Konflikte hindurch immer wieder zu einem „Grundkonsens“ vorzustoßen. Einen solchen lebendigen Grundkonsens (über die Zustimmung zum Grundgesetz hinaus), zum Beispiel über das Maß an tolerierbarer Ungerechtigkeit oder über die Sicherung von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, aber brauchen wir, wenn die vielen Einzelkonflikte unsere Gesellschaft nicht zerreißen sollen.
Wir müssen deshalb unsere Demokratien weiterentwickeln und Verfahren wie Prozesse einrichten, um immer erneut unsere lebendige Übereinstimmung (unseren Grundkonsens) über die Werte und Prinzipien unseres politischen Zusammenlebens gemeinsam zu erarbeiten und in politische Entscheidungen umzusetzen.
Kommunale Entwicklungsbeiräte organisieren Grundkonsens und Gemeinwohl
Das geschieht vorbildlich in Kommunalen Entwicklungsbeiräten, in denen die Vertreter:innen der unterschiedlichen und gegensätzlichen Interessen der Stadtgesellschaft ihre Positionen und Unterschiede gemeinsam auf ihre Gemeinwohlfähigkeit hin prüfen, um zu Kompromissen zu gelangen. So ermöglichen sie einen Zusammenhalt der Gesellschaft, der auf Inklusion, nicht auf Ausschluss „Fremder“ beruht und nicht nur “gefühlt“ ist, sondern rationaler Auseinandersetzung standhält.
Um „Fensterreden“ zu vermeiden, bedarf es dabei der Vertraulichkeit. Veröffentlicht werden können und sollen die vorgetragenen Argumente, damit die Stadtgesellschaft informiert bleibt, aber nicht, welche Personen diese eingebracht haben (Chatham House Rule).
Kooperation von legitimierter Politik und nicht legitimierten gesellschaftlichen Akteur:innen
Dass legitimierte Entscheider:innen und nicht legitimierte Interessenvertreter:innen zusammen beraten, hat viele Vorteile. Zum einen hilft es, wenn die Entscheider:innen an der Beratung beteiligt und über die ausgetauschten Argumente informiert sind. Wenn sie ihre eigenen Argumente einbringen, können sie sich mit dem Ergebnis identifizieren und sind an der Umsetzung interessiert.
Zum anderen wirkt es innovativ und schafft eine kreative Atmosphäre, wenn die verschiedenen Logiken der „Stakeholder“ sich kennenlernen können (und wollen) und im gegenseitigen Verständnis leichter und kreativer Lösungen finden. Insbesondere Verwaltungen und Bürger:inneninitiativen leben oft in sehr unterschiedlichen Welten und Kulturen. Es ist gut, wenn sie gegenseitig die Berechtigung der anderen Logiken nachvollziehen können. Bürger:inneninitiativen werden dann mehr auf die „Realität“ verwiesen. Verwaltungen erkennen, dass ihre Kontrahenten nicht einfach jenseits der Realität und der Rechtsvorschriften „spinnen“. Gemeinsam können sie neue Wege finden.
Im Ergebnis, das haben praktische Versuche mit Kommunalen Entwicklungsbeiräten gezeigt, entsteht so Vertrauen zwischen den Akteur:innen, weil sie sich zuhören, besser verstehen und lernen, dass Politik eher gemeinwohlorientiert entscheiden kann, wenn die Gesellschaft zuvor ihre eigenen Interessenkonflikte geklärt und ausgehandelt hat. In unseren komplexen pluralistischen und zum Teil zerklüfteten Gesellschaften können Politiker:innen allein dies nicht mehr zu Wege bringen. Die Gesellschaft muss sich um ihr Gemeinwohl auch selbst kümmern.
„Bewährt vor Ort“: Sieben kommunale Innovationen erhalten Siegel: Kommunale Verwaltungen stehen vor immer komplexeren Herausforderungen, innovative Ansätze sind dringend gefragt. Gleichzeitig gibt es überall in Deutschland funktionierende Lösungen. Was an einem Ort schon erfolgreich erprobt wurde, könnte an viel mehr Orten wirken. Zu diesem Zweck vergibt der Deutsche Städte- und Gemeindebund gemeinsam mit Re:Form, einer Allianz von Verwaltungspionier:innen, das Siegel „Bewährt vor Ort“. Ziel ist es, bewährte Lösungen aus der Praxis deutscher Verwaltungen in die Breite zu bringen und die Innovationskraft von Kommunen sichtbar zu machen. In den nächsten Ausgaben der „Stadt und Gemeinde digital“ wird jeweils eins der sieben ausgezeichneten Projekte vorgestellt. Den Anfang machen die „Kommunalen Entwicklungsbeiräte“, vorgestellt von Gesine Schwan. Weitere Informationen unter www.reform-staat.org/bewaehrt-vor-ort/
Kommunale Entwicklungsbeiräte: Ein Kommunaler Entwicklungsbeirat (KEB) ist ein Beteiligungsgremium. Es wird von der lokalen Politik beauftragt, eine spezifische, die Kommune bewegende Fragestellung zu bearbeiten. Rund 30 Personen, die kommunale Politik und Verwaltung, sowie die lokale Wirtschaft und Zivilgesellschaft vertreten, werden als Beirät:innen ausgewählt. Im Verlauf eines Jahres kommen sie in vier ganztägigen Sitzungen zusammen, um gemeinsam konkrete Handlungsempfehlungen zu erarbeiten. Kommunale Entwicklungsbeiräte basieren auf der Überzeugung, dass kommunale Entwicklung dann am besten funktioniert, wenn alle wichtigen Interessensgruppen zusammen Ideen entwickeln. Eine professionelle Prozessbegleitung und Moderation der Berlin Governance Platform schafft den Rahmen für einen moderierten Dialog, der es allen ermöglicht, sich auf Augenhöhe zu begegnen. In gemeinsamer Arbeit entsteht ein Empfehlungspapier, das Visionen, Leitlinien und Maßnahmen umfasst. Dieses wird daraufhin dem gewählten Rat zur Bewertung und Entscheidung über eine mögliche Umsetzung vorgelegt. Weitere Informationen: Kommunale Entwicklungsbeiräte - Governance Platform gGmbH (governance-platform.org)
Autorin: Prof. Dr. Gesine Schwan