WCW: Herr Handschuh, gegenwärtig gibt es weltweit 34 Megastädte mit jeweils mehr als 10 Millionen Einwohnern. Zur Jahresmitte 2021 lebten weltweit geschätzt 4,5 der insgesamt 7,9 Milliarden Menschen in Städten. Das entsprach 57 Prozent der Weltbevölkerung. Experten gehen davon aus, dass im Jahr 2030 dieser Anteil bei 60 Prozent liegen wird. Welche Erwartungen leiten Sie daraus für die Logistik ab?
Alexander Handschuh: Diesen Trend beobachten wir bereits seit vielen Jahren und er ist ungebrochen, auch wenn die Pandemie diese Entwicklung sicherlich etwas gebremst hat. Mehr Menschen in den Ballungsgebieten bedeuten auch zusätzliche Herausforderungen für die Versorgung mit Gütern und Dingen des täglichen Bedarfs. Dafür brauchen wir eine zuverlässige, starke Logistik in allen Bereichen. Von einer funktionierenden Logistik wird auch die Lebensqualität in der Stadt von morgen entscheidend abhängen.
Mit Blick auf Deutschland und die jeweiligen Städte und Gemeinden unterscheiden sich die Erwartungshaltung in städtisch und ländlich. Wie gehen Sie beim DStGB diese zwei Seiten der Medaille an?
Über unsere Mitgliedsverbände vertreten wir ja die ganze Bandbreite von Kommunen, von der Großstadt bis zur kleinen Gemeinde. Die Erwartungshaltung unterscheidet sich nicht grundsätzlich, es geht um Zuverlässigkeit und die Versorgung mit Waren und Gütern. In den städtischen Gebieten spielen sicherlich die Themen rund um die letzte Meile eine große Rolle, das ist auf dem Land nicht so sehr von Bedeutung. In den ländlichen Regionen geht es vor allem um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und die Verfügbarkeit von Dienstleistungen rund um die Logistik, wie etwa „same day delivery“.
Die städtischen und ländlichen Bedürfnisse vereinen ja gemeinsame Erwartungshaltungen: Versorgungssicherheit bieten, Lebensqualität gewährleisten und die Wirtschat in Schwung halten. Liegt darin nicht auch immer eine Chance, dass die Logistik und der Wunsch nach einer lebenswerten Stadt sich nicht einander ausschließen müssen?
Natürlich ist Logistik von entscheidender Bedeutung für Wirtschaftskraft und Versorgungssicherheit. Logistik und Lebensqualität schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander. Das wird vielfach übersehen. Ich denke, man kann es sogar umgekehrt formulieren: Wo Logistik fehlt, leidet auch die Lebensqualität.
Welchen Wunsch haben Sie an die Logistik?
Für die Zukunft wird es wichtig sein, den Dialog zwischen Logistik und dem öffentlichen Sektor, vor allem mit den Kommunen, zu intensivieren. Die Herausforderungen bewältigen wir nur gemeinsam, daher sollten wir zu einem noch besseren Miteinander kommen. Unser Ziel muss es sein, den Standort Deutschland und die Kommunen zu stärken. Das schaffen wir nur, wenn alle gemeinsam an der Entwicklung der „Stadt von morgen“ arbeiten.
Eine Ideenschmiede ist ja der Innovators Club, den Sie mit Ihrem Team leiten. An welchen Ideen wird gefeilt?
Unsere Ideenschmiede Innovators Club ist einzigartiger Zusammenschluss von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern. Wir arbeiten dort gemeinsam mit Wissenschaft und Wirtschaft an Zukunftsthemen, etwa in den Bereichen Nachhaltigkeit, Digitalisierung oder Bildung. Derzeit stehen die Vorbereitungen für unser nächstes Deutschlandforum mit dem Titel „Ausbrechen“ an. Dort wollen wir überlegen, wie wir mit innovativen Konzepten aus den von Krisen geprägten Mustern ausbrechen und uns den drängenden Zukunftsaufgaben widmen können.
Lassen Sie uns konkret werden: Wie bewerten Sie die bisherigen Smart-City-Anwendungen?
Es gibt schon einige gute Lösungen, die auch in der Praxis im Einsatz sind. Allerdings gelingt es noch viel zu wenig, diese dann auch wirklich in die Fläche zu bringen. Außerdem handelt es sich vielfach immer noch um Insellösungen, wir brauchen aber bereichs- und sektorenübergreifende Konzepte. Die alte Forderung „Raus aus den Silos“ hat also nichts an Aktualität verloren. Es muss uns gelingen, verschiedene Sektoren einer Stadt auf Datenbasis intelligent zu vernetzen.
Liegt nicht im gemeinsamen Teilen und Nutzen von Daten auch ein unendlich großer Schatz verborgen?
Ja, daher darf es auch nicht länger darum gehen, auf Datenhoheit oder Dateneigentum zu setzen. Daten teilen ist das Gebot der Stunde, das gilt für den öffentlichen Sektor ebenso wie für die Privatwirtschaft. Durch einen großen Pool an Daten können wir die Innovationsbremse lösen und es werden ganz neue Anwendungen entstehen.
Gleichzeitig sind aber auch die Kommunen gefordert, ihre Datenschätze zu heben und nutzbar zu machen…
Was allerdings eine Herausforderung darstellt. Der kommunale Datenschatz ist zwar vorhanden, aber teilweise noch nicht wirklich nutzbar. Es muss nun darum gehen, die vorhandenen Daten in einer guten Qualität und einem einfach nutzbaren Format bereitzustellen. Klar ist aber auch, dass es dafür Geld und Know-how braucht. Beides ist in vielen Kommunen momentan nicht ausreichend vorhanden.
Ich möchte gern noch eine Hochrechnung ins Spiel bringen: Bis 2035 gehen in Deutschland jedes Jahr eine Million Menschen in Rente. Ist das nicht für eine Volkswirtschaft eine gefürchtete Entwicklung?
Ja, natürlich. Die Auswirkungen spüren wir bereits jetzt und das Problem wird sich weiter verschärfen. Der Mangel an qualifiziertem Personal lässt sich auch durch eine Ausweitung der Fachkräftezuwanderung kaum beheben. Umso wichtiger ist es, auf effiziente digitale Werkzeuge, auf Automatisierung und vielleicht irgendwann auch auf KI zu setzen. Anders werden wir die Lücke kaum schließen können.
Eine Konsequenz daraus ist sicher auch, dass sich die Städte radikal ändern werden müssen. Lautet die viel zitierte „15-Minuten-Stadt“ das Ziel?
Diese Idee ist ja nicht neu. Gute Stadtplanung hat immer auf kurze Wege gesetzt und einen polyzentrischen Ansatz verfolgt. Aber wir fangen in Deutschland ja nicht auf der „grünen Wiese“ an und planen Städte nicht am Reißbrett neu. Es muss uns daher gelingen, die bestehenden Strukturen sukzessive so umzubauen, dass wir diesem Ziel näherkommen.